Geschichte des Rollers
Die Geschichte des Rollers ist zum grossen Teil auch die Geschichte der Firma Piaggio.
Der 2. Weltkrieg, eine tiefe Wasserscheide für die gesamte italienische Wirtschaft, hat die Geschichte Piaggio’s stark beeinflusst. In jenen Jahren wurde in Pontedera intensiv an der
Konstruktion der Sternmotoren gearbeitet. Dem Genie Corradino D’Ascanio’s ist es zu verdanken, dass 1943 der leistungsfähigste Kolbenmotor entstand der jemals in Italien produziert
wurde: der P XII mit Doppelstern, 18 Zylindern und einer Leistung von 1750 PS. In Pontedera wurden auch die von P XII RC 35-Motoren mit 1500 PS angetriebenen Bomber P 108
konstruiert. Die dem Flugzeugbau gewidmeten toskanischen Betriebsanlagen von Piaggio (Pontedera und Pisa), stellten ein wichtiges militärisches Ziel dar, und wurden, nachdem die
bereits im Rückzug befindlichen Deutschen sämtliche Pilaster der Hallen vermint hatten, am 31. August 1943 von den Bombern der Alliierten angegriffen und dem Erdboden gleich
gemacht.
Das Ende des Krieges wird von den Gebrüdern Piaggio und den Geschäftsführern der Gesellschaft wie eine wahre Erlösung begrüsst. Die in der Versammlung vom 23. Juli 1945
angewandte Amtssprache ist Beweis für die Freude über die Befreiung Italiens, vor allen Dingen aber für den festen Willen, unverzüglich mit den langwierigen und beschwerlichen
Wiederaufbauarbeiten zu beginnen.
Um das Werk von Pontedera wieder auf die Beine zu stellen, bittet Enrico Piaggio die Alliierten, die noch einen Teil der Esplanaden und der noch erhaltenen bebauten Flächen besetzt
halten, die seinerzeit nach Biella und nach Deutschland umgeleiteten Maschinenausrüstungen nach Valdera zurückzubringen. Die Überführung geht unverzüglich vonstatten. Armando und
Enrico Piaggio beginnen mit dem Wiederaufbau. Die schwierigste Aufgabe steht Enrico bevor, der für die zerstörten Werke von Pontedera und Pisa verantwortlich ist.
Armando, davon überzeugt, dass das Kriegsende keinen Nachfragerückgang für den Flugzeugsektor mit sich bringen wird, macht Finale in Ligurien zum Standort für den Flugzeug- und
Motorenbau, und Sestri für die Reparatur und Produktion von Eisenbahnmaterialien. Enrico ist hingegen der Ansicht, dass, um den Weltkonzernen des Luftfahrtsektors entgegentreten zu
können, ausgesprochen hochentwickelte und fortschrittliche Anlagen benötigt werden, die immense Investitionen in Forschung und Technologie erforderlich machen würden.
Neben seinen Expansionsvorhaben, d. h. der Produktion von weit verbreiteten Verbrauchsgütern, erfasst Enrico Piaggio die Bedeutung und den grossen sozialen Wert, dem
Motorisierungsbedarf der italienischen Bevölkerung nachzukommen, die ein wirtschaftliches, leicht zu handhabendes und für jedermann erschwingliches Verkehrsmittel wünscht.
Zur Entscheidung Enrico Piaggio’s, den Geschäftszweig der leichten Mobilität zu beschreiten, tragen sowohl wirtschaftliche Erwägungen als auch soziale Überlegungen bei. Eine
Entscheidung, die dank der glücklichen Vereinigung der von Enrico als engste Mitarbeiter ausgewählten Personen Gestalt annimmt. Es sind dies der Erfinder Corradino D’Ascanio sowie
Francesco Lanzara, Techniker und Produktionsmanager.
Die Vespa (zu Deutsch “Wespe“) ist die logische Konsequenz der Entschlossenheit von Enrico Piaggio bei der Schaffung eines kostengünstigen Produkts für einen breiten Verbraucherkreis.
Schon als sich das Ende des Krieges abzeichnet, untersucht Enrico jede denkbare Lösung, um die Produktion in seinen Werken in Gang zu bringen. Den Anfang machte das Werk von
Biella, wo ein “Motorscooter“ auf der Grundlage des Modells der kleinen Motorräder für Fallschirmspringer konzipiert wurde. Der Prototyp, der das Siegel MP 5 trägt, wurde wegen seiner
eigenartigen Form “Paperino“ (“Donald Duck“) getauft: Enrico gefiel der Prototyp jedoch nicht und beauftragte Corradino D’Ascanio damit, das Projekt nochmals zu überprüfen.
Der Entwurfsingenieur konnte sich jedoch nicht für Motoräder begeistern. Seiner Ansicht nach waren sie unbequem und unhandlich; obendrein wäre es mühselig, bei einer Panne die
Reifen zu wechseln, und ausserdem wäre es aufgrund der Treibkette eine potenzielle Schmutzquelle. Nichtsdestotrotz fand der Ingenieur die Lösungen für sämtliche Probleme, wobei er
sich auf seine aeronautischen Erfahrungen stützte. Um die Kette zu beseitigen, ersann er ein Fahrzeug mit tragender Karosserie und direktem Antrieb; um die Fahrt angenehmer zu
gestalten, positionierte er die Gangschaltung am Lenker; um den Reifenwechsel zu vereinfachen, klügelte er keine Gabel, sondern einen den Fahrwerken von Flugzeugen ähnlichen
Stützarm aus. Und schliesslich entwarf er eine Karosserie, die dem Fahrer Schutz bot und diesen davor bewahrte, sich zu beschmutzen. Jahrzehnte bevor den ergonomischen Studien
Beachtung geschenkt wurde, war die Fahrposition der Vespa bereits so konzipiert, dass man bequem und sicher sass, und nicht, wie bei einem Motorrad mit hohen Rädern, versuchen
musste, mühevoll die Balance zu halten.
Aus dem neuen Projekt von D’Ascanio ging ein Fahrzeug hervor, das mit dem “Paperino“ nichts mehr zu tun hatte. Es war eine im Vergleich zu allen anderen Beispielen des motorisierten
Zweirades absolut originelle und revolutionäre Lösung.
Mit Hilfe von Mario D’Este, dem Zeichner seines Vertrauens, genügten Corradino D’Ascanio wenige Tage, um seine Idee umzusetzen und das erste Projekt der Vespa vorzubereiten, die
im April 1946 in Pontedera produziert wurde. Der Name des Gefährts wurde von Enrico Piaggio in eigener Person geprägt, der, als er vor dem sehr breiten, den Fahrer aufnehmenden
Mittelteil mit der schmalen “Taille“ des Prototyps MP 6 stand, ausrief “Sieht aus wie eine Wespe“. Und eine Vespa war es auch.
Am 23. April 1946 reicht die Piaggio e C. S.p.A. beim Hauptpatentamt für Erfindungen, Modelle und Marken des Industrie- und Handelsministeriums in Florenz das Patent für das
“Motorrad mit rationaler Verbindung von Aggregaten und Bauteilen, mit Kotflügeln und Gehäuse kombiniertem Chassis zur Abdeckung der gesamten Mechanik“ ein.
Im gleichen Jahr wurden 2484 Scooter auf den Markt gebracht, 1947 waren es bereits 10535 Stück. Im Jahr 1948 verlässt die Vespa 125 das Werk, ein höheres Modell, das sich sofort als
Nachfolger der ersten Vespa mit einem 98 ccm Motor durchsetzt.
Während des gleichen Zeitraums, als die Lambretta begann, sich durchzusetzen, wurde die Vespa auf vielerlei Art und Weise kopiert und imitiert. Die Einzigartigkeit des Fahrzeugs sichert
Piaggio jedoch eine sehr lange Zeit des Erfolgs zu, so dass im November 53 das fünfhunderttausendste Modell, im Juni 56 hingegen das Millionste vom Band läuft. 1960 überschreitet die
Vespa die Grenze von zwei Millionen produzierten Einheiten; 1970 sind es 4 Millionen und 1988 10 Millionen. Damit ist die Vespa auf dem Sektor der motorisierten Zweiräder ein
einzigartiges Phänomen.